Mein Erstkontakt mit JP ist vielleicht eher ungewöhnlich. Irgendwann machte mich YouTube, aus welchem Grund auch immer, auf die Anhörung im kanadischen Senat zum Gesetzentwurf C-16 aufmerksam. Der Inhalt ist hier nicht weiter wichtig, sondern wie JP auf mich wirkte. Er saß, umzingelt von Politikern, Experten, Anwälten usw., und wehrte Angriffe ab, griff selbst an, argumentierte und gab Auskunft. Es wirkte auf mich, als ob eine Gruppe überdurchschnittlich intelligenter Menschen ihre Geisteskraft bündelte und dennoch an einem Einzelnen scheiterte. Wobei mir natürlich bewusst ist, dass IQs nicht summiert werden können, die Arbeitslast steigt jedoch sehr wohl. Eine ähnlich beeindruckende Leistung fällt mir sofort ein: Das Schachspiel Magnus Carlsens aus dem Jahr 2013, bei dem er mit verbundenen Augen zeitgleich gegen zehn Harvard-Anwälte kämpfte und gewann. Jedenfalls beeindruckten mich JPs Redegewalt, sein Wortschatz, seine Ruhe und Konzentration. Es scheint, als würde er so umfangreich und wortgewandt antworten, dass er allein dadurch in einem Schlagabtausch dominiert. Dies liegt jedoch eher daran, dass er sehr strukturiert antwortet; er spricht, als würde er einen sorgfältig vorbereiteten Text verlesen, untermauert durch Thesen, Argumente, Beweise und Beispiele. Oder er weist auf die unbedachte Verwendung eines verschwommenen Begriffs hin, wodurch sich manchmal eine Streitgrundlage plötzlich auflöst, da beide Parteien merken, dass sie im Grunde dasselbe meinen. Auch jetzt noch, nach meinem schreib- und leseintensivem Philosophie-Studium, habe ich das Gefühl, dass er strukturierter spricht als ich schreiben kann. Könnte ich mich doch nur halb so gut meinen Mitmenschen mitteilen wie er!
Was mich zu meinem zweiten Grund für meine Begeisterung bzw. Hochachtung für JP führt: Auf der Suche nach hilfreichen Tipps zur Verbesserung meiner Kommunikationsfähigkeiten von JP selbst fand ich ein Video, in dem er, diesmal als Universitätsprofessor für klinische Psychologie, von einem Studenten um Hilfe gebeten wird. Dank des geheimnisvollen YouTube-Algorithmus stieß ich als Nächstes über JPs Sicht auf die Geschichte von Achilles und der vielköpfigen Schlange. Zwar hatte ich Homer bereits vor Jahren gelesen und diese Heldengeschichte war mir bekannt, jedoch hatte ich nie über eine psychologische Deutung nachgedacht. Achilles schlägt dem Monster einen Kopf ab und zwei neue wachsen nach. Wir lösen ein Problem, denken, es sei geschafft und wir hätten Ruhe, doch schon tauchen die nächsten Schwierigkeiten auf. Ich beantworte zügig eine E-Mail. Der Absender freut sich über meine schnelle und informative Antwort und schickt mir daraufhin direkt eine neue, diesmal kompliziertere Frage. Ein Leben ohne Probleme ist nicht möglich; sie sind ein integraler Bestandteil unserer Existenz. Manchmal begeistert mich eine neue Information oder Erkenntnis so sehr, dass ich sie mir sofort notiere, sie nicht vergessen will und nur darauf warte oder hoffe, dass sich eine Gelegenheit ergibt, um sie jemandem zu erzählen. Natürlich sind viele Themen, etwa aus meinem Studium der formalen Logik, nur für einen sehr kleinen Personenkreis von Interesse oder Bedeutung. JPs Wissen ist jedoch für meine Mutter genauso spannend wie für einen Kommilitonen, da es von höchster praktischer Bedeutung ist. Zuletzt erging es mir in ähnlicher Weise bei Jürgen Drewermann und seiner Auslegung von „Hänsel und Gretel“ so. Übrigens schätze ich Drewermanns Intellekt und Kreativität ähnlich hoch ein wie JPs. In einem mehrstündigen Vortrag über Depression steht er auf einer Bühne, bescheiden gekleidet, das Pult zaghaft berührend, das Gesicht von Gefühlen bewegt und die Augen unaufhörlich tränend, und spricht ohne ein „Äh“, ohne Textvorlage und ohne Teleprompter, in ruhigem Tempo, unterstützender Betonung, Absatz für Absatz eines Textes, den er vor seinem geistigen Auge sieht.
Spätestens die Interpretation des Hydra-Mythos wirft die Frage auf, welcher Disziplin JP eigentlich zuzuordnen ist. Mittlerweile würde ich sagen, dass es neben Psychologie und Literatur auch Geschichte, Philosophie, Biologie usw. sind. Natürlich ist er nicht in allen Fachbereichen gleich gut bewandert. Es gibt heute weder Universalgelehrte noch Experten für eine gesamte Disziplin. Die Wissensmenge ist explodiert und Spezialisierung und Ausdifferenzierung innerhalb der Fachbereiche schreitet derart fort, sodass es kaum noch möglich ist, in allen Bereichen ein Fachmann zu sein. Dennoch sind Phänomene und Probleme nicht an Disziplinen gebunden – es schert sie schlichtweg nicht. In „Allgemeine Systemtheorie“ beispielsweise fragt Günter Ropohl, wie ein Mensch zu dem wird, der er irgendwann ist. Antworten aus unterschiedlichsten Fachrichtungen, würden nur zu einer Sammlung lexikalischer Beiträge führen. Ideal wäre jedoch eine Person, die in vielen Fachgebieten bewandert ist und eine Synthese bildet. Genau solch eine Person stellt JP für mich dar. Und das ist auch der Grund für das oft zitierte Beispiel mit dem Hummer bezüglich der Begründung für das Mutig-Sein. Denn auch im Bereich der Biologie oder Biochemie befinden sich bedeutsame Beiträge. JP durchforstet alle für eine Fragestellung relevanten Gebiete nach Informationen und Erkenntnissen und kombiniert sie schließlich zu einer nicht rein lexikalischen Antwort. Diese Herangehensweise beschreibt Ropohl als synthetische Philosophie oder eben als Allgemeine Systemtheorie. In „12 Rules for Life“ vollzieht JP also eine Synthese, er reduziert und kombiniert Wissen neu und also anders als bisher und genau das ist, zumindest mir, so noch nicht begegnet und allg. von höchstem Wert.