Siehe u.U. auch Lernplattform (LMK)
Erfahrungsbericht
Eines Abends fragte meine Mutter, ob ich Lust auf Rätsel hätte. Es lautete „22 + 4 = 2“. Weitere Informationen oder Hinweise bzw. einfach eine dazugehörige Frage bekam ich nicht. Die Gleichung war leicht zu merken, und so überlegte ich in den folgenden Tagen immer wieder ganz spontan, was das Rätsel zu bedeuten hat.
Ich war neugierig auf die Lösung und vermutlich allein deshalb motiviert. Würde ich in der Schule an der Tafel stehen und mir schnell etwas einfallen lassen müssen, dann wäre ich bloß rot angelaufen.
Ich probierte allerlei herum. Es war ein wildes Nachdenken, ohne dass ich wüsste, was ich tue. Mir kam plötzlich Fußball in den Sinn, da insgesamt 22 Spieler auf dem Platz stehen und es ja auch noch die beiden Trainer gibt und außerdem der Chef meiner Mutter, von dem sie das Rätsel hatte, fußballbegeistert war.
Während der Arbeit in einer Umschlagbasis der Supermarktkette ALDI betrachtete ich alle möglichen Objekte in meiner Sichtweite. Mal schaute ich auf vorbeifahrende Flurförderfahrzeuge und mal auf Paletten voller Buttermilch. Auch durchforstete ich meine Arbeitskleidung nach Hinweisen. Zuletzt dachte ich immer wieder an verschiedene Wissensgebiete, wie Literatur, Wissenschaft, Filme, Serien usw., in der Hoffnung, irgendwie inspiriert zu werden.
Nach einigen Tagen hatte ich aufgegeben. Ich hatte resigniert und war wieder völlig entspannt und ging meiner Routine nach. Gegen Mittag fiel mein Blick auf eine große Wanduhr, denn das Radio lief nicht und ich hatte weder Handy noch Armbanduhr dabei: Auf dem Ziffernblatt rechts die Drei, unten die Sechs, links die Neun, ein wenig weiter oben die 10 oder abends als Zweiundzwanzig und vier Stunden später, nach Mitternacht, also am nächsten Tag, zwei Uhr nachts – das war es!
Die Lösung leuchtete ein. Eine Prüfung, ein Nachfragen bei meiner Mutter schien völlig unnötig. Ich war ganz ungewöhnlich zufrieden und fröhlich und suchte schnell einen Arbeitskollegen und fragte nun ihn, ob er Lust auf ein Rätsel hätte.
Am nächsten Tag war das Hochgefühl längst verflogen. Stattdessen war ich enttäuscht und sogar frustriert. All die Jahre des Lernens, im Kindergarten, in der Schule, an der Uni usw. und all das Wissen aus Büchern, Filmen und Serien – und dann wurde ich mit einer Art Rätsel für Kinder konfrontiert und hatte keine Ahnung, was zu tun.
Dieser Erfahrungsbericht zeigt oberflächlich, wie der Problemlösungsprozess bei mir ablief. Ich war damals relativ ungeübt, ging unsystematisch und ohne besondere Methoden vor. Vielleicht erkennt sich jemand darin wieder?
Untersuchung
Untersuchen wir jetzt den Erfahrungsbericht! Dabei decken wir die zugrunde liegenden Prozesse auf und verstehen besser, was passiert ist.
Aufgabe vs. Problem
Eine Reifenpanne bei einem Auto ist ärgerlich, aber die meisten Menschen wissen ungefähr, was zu tun ist; die grundlegenden Schritte zum Wechseln des Rades sind in etwa bekannt. Nötig sind ein Wagenheber und ein Werkzeug zum Lösen der Schrauben usw. Trotzdem finden viele den Wechsel sehr problematisch und ziehen es vor, den Pannendienst zu rufen oder in die Werkstatt zu fahren. Wenn die Schritte vom Ist-Zustand, der Panne, zum Soll-Zustand, dem gewechselten Reifen, bekannt sind, dann sprechen wir von einer Aufgabe. Beim Rätsel „22 + 4 = 2“ wusste ich jedoch überhaupt nicht, was zu tun war. Mir war auch nicht richtig bewusst, was eigentlich von mir gefordert wurde, außer vielleicht eine Erklärung abzugeben. Die Transformation zum Soll-Zustand lag im Dunkeln, und deshalb war es ein Problem. Sind die Schritte vom Ist zum Soll bekannt, handelt es sich um eine Aufgabe, andernfalls um ein Problem. Natürlich ist das relativ und nicht unveränderlich; was für den einen lediglich eine schwierige Aufgabe ist, stellt für den anderen ein Problem dar.
Motivation und Stress
Es ist nicht übertrieben, über Motivation zu sprechen, selbst bei scheinbar unbedeutenden Dingen wie einem kleinen Rätsel. Tatsächlich können gerade solche kleinen Herausforderungen wichtige Einblicke in unsere psychologischen und kreativen Prozesse bieten. Während bestimmte Tätigkeiten wie Gehen, Laufen oder Kartoffeln schälen tatsächlich fast automatisch und ohne viel bewusste Anstrengung ausgeführt werden können, erfordern kreative Prozesse eine andere Art von Engagement.
Die zugrunde liegenden unbewussten Prozesse, die für kreatives Denken erforderlich sind, müssen aktiviert werden, und der Glaube an den Erfolg spielt dabei eine Rolle wie ein Funke. Meine eigene Neugier und mein Optimismus lieferten den nötigen Antrieb, obwohl ich aufgeregt und unter Stress stand. Als dieser Stress nachließ, weil ich aufgegeben hatte, konnte ich gedanklich freier agieren und fand die Lösung. Es stimmt, dass unter hohem Druck das kreative Denken oft leidet und dies zu Blockaden oder Vermeidungsverhalten führen kann.
Wenn es darum geht, mit Stress umzugehen, bedeutet dies in der Regel, Strategien zu entwickeln, um den Stress zu reduzieren, nicht unbedingt, unter gleichem Stressniveau besser kreativ zu arbeiten. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass jemand unter demselben Stressniveau bessere kreative Leistungen erbringen kann. Stattdessen geht es darum, zu lernen, wie man die Bedingungen für kreatives Denken optimiert, was oft eine Verringerung des empfundenen Drucks beinhaltet.
Brute-Force-Methode und Versuch-und-Irrtum
Eine Fahrradkette mit einem Zahlenschloss und drei Ziffern als Code knackt man spätestens beim tausendsten Versuch. Beginnend bei 000 erreicht man bei 999 die tausendste Kombination. Besteht ein Webseiten-Passwort aus drei zu erratenden Ziffern und hat ein Hacker beliebig viele Versuche, so gelingt ihm der Zugriff in Sekundenbruchteilen.
Diese Art des unsystematischen Durchprobierens aller Möglichkeiten können Computer besonders gut und schnell. Und ich nutzte bei unserem Rätsel diese sogenannte Brute-Force-Methode, dieses stumpfsinnige Ausprobieren, dieses an alles Mögliche Denken und von einem Gedanken zum nächsten Springen, als Erstes und leider ohne Erfolg. Besser wusste ich mir nicht zu helfen. Tatsächlich wechselte ich irgendwann auch zur sogenannten Versuch-und-Irrtum-Methode, die gewisse Ähnlichkeiten zur ersten Methode aufweist. Sie beruht auf wiederholtem Lernen aus Fehlern. In einem Labyrinth würde ich an Kreuzungen zufällig Richtungen wählen, bei Sackgassen zurückgehen und die Richtung wechseln, falsche Wege ausschließen und mich so schrittweise dem Ausgang nähern. Mit der Brute-Force-Methode würde ich systematisch jede mögliche Route ausprobieren, ohne adaptives Lernen aus vorherigen Fehlern, und dann nur zufällig irgendwann den Ausgang finden. Wir sehen schon, dass keine dieser Methoden besonders gut beim Lösen von Rätseln, also Problemen, funktioniert. Zumindest würde ich sie bewusst nur sehr eingeschränkt einsetzen.
Analogie-Prinzip
Die meisten Menschen suchen wohl bei Google nach Hilfe bei ihren Schwierigkeiten. Sie fragen sich: Wurde mein Problem oder ein ähnliches bereits gelöst und kann ich die Lösung auf meine Situation übertragen? Alternativ suchen sie in ihrem Gedächtnis nach ähnlichen Situationen oder Herausforderungen und versuchen, eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen.
In einem Labyrinth könnte ich mich beispielsweise an ein früher bewältigtes Labyrinth erinnern und daran, dass ich dort immer entlang der rechten Wand ging. Oder ich könnte eine bekannte Struktur oder ein Muster, wie ein Baumdiagramm, wiedererkennen. Auch könnte mich eine Geschichte inspirieren, wie die von Theseus und dem Minotaurus, in der ein Faden verwendet wird.
Bei meiner Irrfahrt durch das Lager habe ich vielleicht an die hundert Objekte verglichen und nach Ähnlichkeiten gesucht. Ebenso suchte ich beim geistigen Durchforsten verschiedenster Wissensgebiete nach Parallelen.
Invarianz-Prinzip
Als mein Blick schließlich auf die Wanduhr fiel, zeigte sie natürlich nicht 22 Uhr an, nur um dann um vier Stunden auf die 2 Uhr zu springen. Doch ich sah eine Variation meines Rätsels, denn es wäre zulässig und als Rätsel nur unwesentlich verändert, wenn nach dem Sinn von „23 + 2 = 1“ gefragt würde. Manchmal machen uns zulässige Änderungen einiger Parameter eines Systems bewusst, dass gewisse Dinge sich nicht ändern und diese Unveränderlichkeiten können Aufschluss über das ganze System geben. Übrigens sprach Einstein ursprünglich nicht von der Relativitätstheorie, sondern von der Invarianztheorie des Lichts. Die Tatsache, dass sich die Lichtgeschwindigkeit nie ändert, liefert Aufschlüsse über die Funktionsweise von Raum und Zeit. Am Beispiel unseres Rätsels könnte der geübte Problemlöser nach einer Variation des Rätsels fragen. Die Invarianz liegt hier in der Art und Weise, wie die Zeit zyklisch behandelt wird: Nach 23 Uhr folgt 0 Uhr, was bei den Varianten 1 und 2 der Fall ist. Besteht bereits eine Vermutung bezüglich dieser Regel, so wird sie bei der Variante 2 bestätigt.
Erleuchtung
Als ich die vermeintliche Lösung gefunden hatte, sagte mir nur mein Gefühl: Ja, das ist es! Es war, als ob eine Kugel auf einer ebenen Fläche in eine kleine Mulde rollt und dort liegen bleibt, und der zuvor indifferente Zustand plötzlich stabil wird. Das unerwartete Hochgefühl war in der intrinsischen Belohnung begründet. Beides, die unbegründete Gewissheit und die positive Stimmungsschwankung, sind typisch für den erfolgreichen Abschluss eines Problemlösungsprozesses.
Korrektur des Selbstbildes
Das kleine Rätsel machte mir sehr deutlich, dass ich doch nicht so klug war, wie angenommen. Es zeigte mir, dass ich bisher eher Aufgaben erledigt hatte und nicht gut auf den Umgang mit echten Problemen vorbereitet war. Wie die meisten Menschen nutzte ich bloß zwei oder drei Denkwerkzeuge. Entscheidend dabei ist, dass mir allein aus dem Bereich der Heuristiken für das Lösen quantifizierbarer Probleme 22 Werkzeuge zur Verfügung stehen.
Zusammenfassung und motivierender Ausblick
Fassen wir die Erkenntnisse aus meinem Problemlöseversuch zusammen und geben einen motivierenden Ausblick:
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Bei Aufgaben ist der Lösungsweg bzw. die Transformation vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand bekannt, bei Problemen jedoch nicht. Wenn ich nicht weiß, was zu tun ist, handelt es sich vermutlich um ein Problem.
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Rätsel und allgemeiner Probleme lassen sich kaum mechanisch lösen; sie erfordern Motivation, festen Glauben oder Zuversicht. Stress hemmt die Kreativität, während Entspannung oder sogar eine gewisse Gleichgültigkeit sie fördern.
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Die Brute-Force-Methode eignet sich gut für Computer und das Knacken von Passwörtern, aber weniger für die Lösung von Problemen. Mit der Methode von Versuch-und-Irrtum kommen wir schon weiter.
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Beim Analogieprinzip suchen wir nach bereits bekannten Lösungen und verwandeln so Probleme in Aufgaben.
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Beim Invarianzprinzip führen wir zulässige Änderungen einiger Parameter durch und beobachten, ob sich Teile des Systems nicht verändern und was sie uns über die Funktionsweise des gesamten Systems verraten können.
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Wir Menschen können im Fällen von Bäumen effektiv mit einem Biber konkurrieren, indem wir ein Werkzeuge wie eine Axt oder eine Kettensäge benutzen, anstatt uns auf rohe körperliche Kraft zu verlassen. Genauso wie wir uns nicht unvorbereitet mit einem Adler im Energiesparen pro zurückgelegtem Kilometer messen können, es sei denn, wir nutzen ein Fahrrad. In ähnlicher Weise stehen uns im Bereich des Denkens zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung, die wir schnell und einfach erlernen können, um unsere Problemlösefähigkeit deutlich zu verbessern.