Siehe u.U. auch Lernplattform (LMK)
900 Karteikarten, Erstkontakt, Bedingungen
In meinem ersten Semester an der FernUni in Hagen umfasste der bedeutsame Stoff für die erste schriftliche Prüfung „Einführung in die Theoretische Philosophie“ rund 1000 DIN-A4-Seiten. Selbst nach der Eingrenzung auf 300 Seiten entstanden bei einer Unterteilung in Absätze ca. 900 Karteikarten, jeweils mit einer wichtigen Gedankenreihe und fünf Schlüsselbegriffen. Mir wurde schnell klar: Das Auswendiglernen wie in der Schule, durch stures, stumpfsinniges Büffeln – das würde ich nicht tun. Lieber würde ich mich wieder ausschreiben bzw. exmatrikulieren!
Ich hatte mich schon mit meiner Entscheidung abgefunden, als mir das Uni-Magazin „Sprachrohr“ in die Hände fiel. Darin erwähnte ein Studiengenosse in einem Erfahrungsbericht die sogenannte Loki-Methode, eine Merktechnik, die meinen Erstkontakt mit der Gedächtniskunst darstellte. Sofort erkannte ich den Nutzen für das Studium im Allgemeinen und ganz konkret für meine nächste Klausur und den Stapel an Karteikarten. Eine erste, schnelle Durchsicht entsprechender Wikipedia-Artikel bestätigte meine Hoffnung, und ich beschloss, mich gründlich in diese Kunst einzuarbeiten, und zwar mit Hilfe des sehr guten Ratgebers „Einfach alles merken“ von Ulrich Bien. Dieses Buch bildet immer noch die Grundlage und den Orientierungspunkt meiner Mnemotechnik-Fähigkeiten. Meine Lehr-Videos zu diesem Bereich sind zweierlei: Verdichtende und hoffentlich anschaulichere Formulierungen der Ausführungen Biens sowie ein Destillat meiner persönlichen Erfahrungen.
Mittlerweile gibt es wohl keine Merktechnik, die ich nicht kenne. Sollte es doch eine geben, dann wird sie nur eine unbedeutende Variante sein. Von der kleinsten Technik, der Eselsbrücke, dem Merksatz, über die Zahlen-Symbol-Route bis hin zum Gedächtnispalast – wir werden sie alle nach und nach erlernen und auf eure konkreten Fälle übertragen. Dabei sind die Grundsätze der kleinsten Techniken auch in den umfassendsten Techniken vorzufinden. Betrachtet deswegen dieses Video als nützlich, auch wenn ihr die zu merkenden Symbole (Kreuz, Dreieck, Quadrat und Kreis) vermutlich für keine Prüfung verinnerlichen müsst. Auch ich nahm es ernst und konnte schließlich den ursprünglich furchteinflößenden Karteikartenstapel und noch viel mehr relativ schnell und einfach memorieren und meine erste Prüfung an der Uni mit einer Eins bestehen, zu meiner und meiner Eltern Erleichterung.
An dieser Stelle einige Bedingungen, ohne die ein Erfolg unwahrscheinlich ist: Memorieren erfordert Deep-Work-Verhältnisse und eine vorübergehende Abkehr von Drogen und passivem Medienkonsum, zumindest war das meine Erfahrung.
5 Symbole, Grenzen normalen Merkens
Dreieck, Kreuz, Quadrat, Kreis, Dreieck – diese Reihe aus fünf abstrakten Symbolen, nennen wir sie Reihe-5, ist leicht zu merken. Obwohl es, wie zu jedem meiner Lehrvideos, auch für das vorliegende auf meta-kompetenzen.org Aufgaben und Übungen gibt, macht es diesmal durchaus Sinn, auch schon während des Schauens immer wieder das Video zu pausieren und erste Versuche zu starten.
Dreieck, Kreuz, Quadrat, Kreis, Dreieck, Quadrat, Quadrat, Kreis, Dreieck, Dreieck – also eine doppelt so lange Reihe-10 ist für die meisten Menschen nicht mehr so ohne Weiteres zu merken. Sie würden daran genauso scheitern wie bei einer Telefonnummer, die ihnen jemand, den sie spontan getroffen haben, schnell zuruft und dann weitergeht. In beiden Fällen besteht die Gesamtinformation aus abstrakten Elementen: Geometrischen Figuren und Ziffern. Die Art, wie wir uns solche Dinge normalerweise merken, bleibt meist im Dunkeln. Zwischen dem zu Verinnerlichenden und unserem Gedächtnis steht ein Vorgang, den wir nicht weiter beschreiben können. Diese Art des Merkens, ohne Technik im Gegensatz zur Mnemotechnik und dem bewussten, systematischen Verinnerlichen, ist die von mir bevorzugte Alternative: Ein Hineinkonstruieren ins Gedächtnis bzw. ein Herauskonstruieren. In späteren, ausführlicheren Videos werden wir genauer über die Funktionsweise sprechen und jetzt mit unserer Symbolreihe fortfahren.
Ich verspreche, unter den vorhin erwähnten Bedingungen und mit genügend Ernsthaftigkeit, dass sich die meisten schnell und einfach die Reihe-10 und auch die exakte Reihenfolge von nicht weniger als 100 Symbolen, also die Reihe-100, merken können!
Verbildlichen, Verorten, …
Nur weil wir diese Symbole hier benutzen, braucht ihr euch nicht zu fürchten, dass wir etwas Unnützes lernen. Wie bereits erwähnt, sind die erlernten Grundsätze auf alle Arten von Informationen anwendbar, und ich setzte sie sogar im nicht gerade anschaulichen Bereich der Philosophie ein.
1. Wir übersetzen die Symbole Kreuz, Dreieck, Quadrat und Kreis, damit es leichter wird. Da sie in Reihe-5, 10 und 100 mehrfach vorkommen, verwenden wir Themen:
Das Kreuz steht für das Gebiet der Medizin. Solche Symbole finden wir auf Krankenwagen und an Krankenhäusern oder beim Roten Kreuz, was auch schon eine Merktechnik, nämlich eine Eselsbrücke. Das Dreieck erinnert an die Umrisse einer Tanne und steht für Natur. Das Quadrat steht für Werkzeuge. Werden Absperr-Pollen nicht mit einem quadratischen Schlüsselkopf entriegelt? Pizzen sind rund, und so steht unser Kreis für alles Mögliche, das Essen betrifft. Entsprechend würde die Reihe-5 z.B. so lauten: „Kaktusstachel, Pflaster, Zange, Eis, Tanne“. Die Fortführung in Reihe-10 könnte so lauten: „… Hammer, Bohrer, Döner, Blitz, Donner“.
2. Genau genommen ist die Reihenfolge der einzelnen Symbole auch eine Information. Als sog. Ablageort der gerade eben erdachten Gegenstände benutzen wir eine Zehnerreihe, die jeder bereits kennt und sich deshalb nicht erst merken muss: Die Ziffernfolge 1 bis 9 und zuletzt die 10. Wir müssen sie lediglich durch Gegenstände veranschaulichen, die den Ziffern ähnlich sehen: 1 = Pfeil, 2 = Schwan, 3 = BH, 4 = Segelboot, 5 = Haken, 6 = offenes Schloss, 7 = Kran, 8 = Kette, 9 = Ballon, 10 = alle zehn Finger bzw. beide Hände. Diese zehn Gegenstände in dieser Reihenfolge bilden die sog. Zahlen-Symbol-Route.
3. Jetzt verbinden wir die übersetzten Symbole von Reihe-10 mit den einzelnen Gegenständen der Route. Entscheidend dabei ist, diese Gegenstände sich so mit dem geistigen Auge vorzustellen, als ob sie tatsächlich existierten, also wirklich da wären, und das mit allen Sinnen: Ich berühre den Pfeil, taste seine scharfe Spitze ab, es piekst, ich streife mit Daumen und Zeigefinger ausgehend von der Spitze über den Schaft bis zum nachgiebigen Gefieder… Er trifft einen Kaktus perfekt an einem Stachel und spaltet ihn – das ist einmalig! Und auf diese Weise fahren wir fort: Der gespaltene Stachel wird mit einem Heftpflaster umwickelt. Mit einer Zange ziehe ich beides vorsichtig aus dem Kaktus. Mit Hilfe von Eis konserviere ich den Beweis meiner Geschicklichkeit und klettere auf einen Tannenbaum. Wir könnten so leicht fortfahren, nur versprach ich auch 100 Symbole zu memorieren, und dafür wäre die zehn Punkte große Zahlen-Symbol-Route um ein Vielfaches zu klein.
4. Wir erhöhen gewissermaßen die Dichte, indem wir aus jeweils zehn verbildlichten Symbolen eine Geschichte erfinden und dann diese Geschichte mit einem Punkt der Zahlen-Symbol-Route verbinden oder verkleben, verflechten, verschachteln o.ä. Das machen wir, wie schon vorhin, mit Hilfe unserer Phantasie, die grenzenlos ist und immer sein wird und worauf wir uns meist auch verlassen können:
„An einem Kaktusstachel verletze ich mich, deshalb klebe ich ein Pflaster drauf. Leider schmerzt es immer noch, weil der Stachel noch im Finger steckt, und deshalb ziehe ich ihn mit einer Zange raus. Als Belohnung für meine Tapferkeit kaufe ich mir ein Eis. Ich will mich nicht wieder derart verletzen, also klettere ich auf eine hohe Tanne zwecks besserer Übersicht. Damit ich nicht abrutsche, versuche ich, ein paar Nägel zu schlagen, was nicht geht, da zu schwer; also bohre ich lieber ein paar Schrauben rein. Nach getaner Arbeit esse ich in luftiger Höhe einen richtig leckeren Döner. Gerade sattgegessen, überraschen mich Blitz und Donner.“ Ach ja, wir wollen ja mit dem Pfeil beginnen, was leicht nachzukonstruieren ist: „Jemand schießt einen Pfeil auf mich, ich renne los und verletze mich an einem Kaktusstachel…“. Indem ich mir diese Geschichte ausdenke, konstruiere ich die Reihe-10 in mein Gedächtnis hinein und, indem ich sie mir wieder vergegenwärtige und vor meinem geistigen Auge abspiele, konstruiere ich sie wieder heraus. Im Gegensatz zum Auswendiglernen durch Wiederholen ist jetzt der Vorgang zwischen externen Informationen und internem Speicher transparent, logisch und nachvollziehbar.
5. Für einige könnten nicht bedeutsame Elemente der Geschichte verwirrend sein. Sie könnten beim Herauskonstruieren zu der Frage führen: Ist „Jemand“ auch ein Thema bzw. ein übersetztes Symbol oder die gewonnene „Übersicht“ auf der hohen Tanne? Deshalb bevorzuge ich eine vereinfachte, also bereinigte Kette aus jeweils zehn Gegenständen ohne namentlich bedeutende Elemente, abgelegt auf einen Routenpunkt, die in etwa so lauten könnte: „Pfeil trifft Kaktusstachel genau. Heftpflaster um gespaltenen Stachel. Mit Zange beides raus & Eis fürs Konservieren. Stecke es auf Tannenbaumspitze. Mit Hammer draufschlagen. Geht nicht, also mit Bohrer nachhelfen. Wickle Dönertaschenfolie drum; sie lockt Blitz und Donner an.“
Auf diese Weise fahren wir mit den restlichen 90 Symbolen fort, schnappen uns also jeweils zehn von ihnen und legen diese Zehner-Blöcke auf die einzelnen Punkte der Route, mit dem Schwan als nächstem Ablageort nach dem Pfeil.
Zweifel, Hilfe durch KI
Es würde mich jetzt nicht wundern, wenn nach dem Sinn des Ganzen gefragt würde. Diese Kritik ist berechtigt. Ist der Aufwand für das Memorieren dieser Symbolreihe nicht zu groß? Nimmt die Informationsmenge nicht sogar zu? Die Zehner-Reihe oder ein wenig mehr kann sicherlich noch durch das populäre Auswendiglernen mittels Wiederholung verinnerlicht werden. Bei der Hunderter-Reihe behaupte ich jedoch, dass es keine gute Alternative zu irgendeiner Merktechnik gibt. Die Frage lautet also: Entweder Merktechnik oder kein Verinnerlichen überhaupt. Außerdem erfordern Merktechniken nach einer bestimmten, meist jedoch nicht langen Einarbeitungszeit, deutlich weniger Kraft als beim ersten Mal.
Mittlerweile kann uns auch eine KI, wie ChatGPT, hervorragend unterstützen. Phantasievoll von ihr erstellte Ketten können wir gut übernehmen und als Basis für das Hineinkonstruieren gebrauchen. Nach ein wenig hin und her erhielt ich folgende Liste, die als nächstes, durchaus auch mit Hilfe der KI zu Geschichten oder einfacheren Begriffsketten umgewandelt werden können:
Abb. 1: Eine durch ChatGPT 4 generierte Kette
Ausblick
Ich kann kaum glauben, dass nicht zumindest die Zahlen-Symbol-Route jedem bereits an dieser Stelle im Gedächtnis geblieben ist. Als eine sehr einfache Übung könntet ihr euch eine Einkaufsliste mit ihrer Hilfe merken. Beginnt mit zehn Artikeln, also jeweils einem pro Routenpunkt, und probiert aus, ab wie vielen Artikeln pro Punkt es unangenehm schwierig wird.
Neben einer Route als Ablageort haben wir außerdem gelernt, dass die Eselsbrücke als kleinste Merktechnik immer wieder nützlich ist. Verbildlichte bzw. versinnlichte Gegenstände können wir miteinander verbinden, verdichten, verorten und abstrakte Informationen logisch in unser Gehirn hinein- und wieder herauskonstruieren.
Sollten mir über die Kommentarfunktion keine anderweitigen Vorschläge unterbreitet werden, würde ich als Nächstes praktischere Beispiele aus dem Bereich der Gedächtniskunst verwenden, wie z.B. ein Kartenspiel, also eine Reihe aus 52 Karten, oder wie eine Rede von beliebiger Länge memoriert wird.
Jetzt sollten die vermittelten Grundsätze usw. mittels Aufgaben verfestigt und Reihe-100 als eine der Übungen zumindest probiert werden. Auch ich habe so angefangen.
Das eigentliche Dilemma liegt darin, dass unser Bildungssystem das Verinnerlichen von Informationen überbewertet, eine Aufgabe, die technische Speichermedien effizienter bewältigen. Ich präsentiere Techniken der Gedächtniskunst, weil sie trotzdem entscheidend für den Erfolg in vielen Prüfungen sind – eine Notwendigkeit, für die ich nicht verantwortlich bin, aber auf die ich gerne reagiere.