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Erstkontakt

Mein erster Kontakt mit der Börse war geprägt von massiver Überforderung. Unzählige Ratgeber, Erklär-Videos, Echtzeitnachrichten und weitere Dienste stürmten auf mich ein. Damals erkannte ich nicht, dass diese Intransparenz ein typisches Merkmal komplexer Systeme ist. Es lag an mir, angemessen darauf zu reagieren oder zu scheitern, weil ich vergeblich nach einfachen Lösungen suchte, die nicht existierten.

Definition

Die Börse ist ein offenes, komplexes, sozio-technisches System. Was bedeuten die einzelnen Ausdrücke dieser Definition? Nachfolgend vereinfache ich alles stark und erfasse nur das Nötigste, sodass wir uns hin zu einer konkreten Hilfe im Umgang mit Komplexität am Beispiel der Börse bewegen. Wir müssen handlungsfähig bleiben!

Börse Funktionsweise / Intransparenz

Mit „Börse“ ist ein geregelter Markt gemeint, an dem standardisierte Objekte, wie z.B. Aktien, gehandelt werden. Dabei werden Angebot und Nachfrage ausgeglichen. Die Börse verkauft also nichts selbst, sondern bringt Käufer und Verkäufer zusammen. Im Kern wird ein Auftragsbuch abgearbeitet, so dass der Umsatz maximiert wird. Diese Abarbeitung, auch als Level-2 bezeichnet, ist von jedem einsehbar und der Ort, an dem letztlich Kurse gebildet werden. An dieser Stelle spielen weder Zukunft noch Vergangenheit eine Rolle. Pläne oder Ähnliches kennt das Orderbuch nicht. Wenn ein Verkäufer einen großen Teil an Unternehmensanteilen verkaufen möchte und kein ebenso williger Käufer eine gegenteilige Wette eingeht, dass es besser wäre, die Aktien zu besitzen, dann findet der Verkauf über viele Tage oder gar Wochen statt. Mit dieser einfachen Art der Betrachtung, und ja, es ist eine starke Vereinfachung, reagieren wir bereits angemessen auf die erwähnte Intransparenz durch Reduktion der Informationen und gewinnen eine erste nützliche Erkenntnis: Als Börsenneuling dachte ich, dass ich ohne kostspielige Real-Time-Börsennachrichten aufgeschmissen wäre, dabei liegen große Verkaufsaufträge und ihre tatsächliche und oft schrittweise Abarbeitung zeitlich meist deutlich auseinander, und auch relevante Unternehmensnachrichten fallen nicht unbedingt mit den einzelnen Aufträgen zusammen. Jedenfalls, wenn Intransparenz in Form fehlender Informationen auftritt, müssen wir sie aktiv beschaffen oder, wie im Fall der Börse, wenn sie als Überfluss an Informationen vorliegt, müssen wir sie reduzieren. Eine gute Option dafür ist z.B. das First-Principles-Thinking, wo wir uns die Grundlagen, wie z.B. die Grundsätze der Kursbildung, nochmals vergegenwärtigen.

Offenes System

Ein offenes System erklären wir zunächst an den Eigenschaften eines geschlossenen Systems, wie einem PC. Dort erwarte ich, dass beim Drücken auf „a“ innerhalb von Word „a“ oben links in der ersten Zeile angezeigt wird – ansonsten liegt ein Fehler vor. Ich erwarte also immer denselben Output bei identischem Input. Updates oder Ähnliches ausgenommen, ändern sich Programme oder das Betriebssystem nicht und Hardware muss ich bewusst selbst ändern. Auch kenne ich die Grenzen meines PCs und kann vorhersagen, wann er abstürzt. Die Börse, einschließlich der notwendigen Marktteilnehmer und Wirtschaftsteile, lernt, passt sich an und befindet sich von allein im Austausch mit ihrer Umgebung. So bedeutet eine wiederholte Pleite großer Banken eine andere Reaktion als beim ersten Mal. Eine Krise ist nicht zwangsläufig schlecht, sondern eine Umstrukturierung bzw. das Ausloten neuer stabiler Zustände. Die Krise als Pleite vieler traditioneller Händler erscheint gefährlich, nur um im nächsten Schritt als Transformation hin zum Onlinehandel zu gelten.

Sozio-Technisch

Mit „sozio-technisch“ ist die Kombination aus Menschen und Maschinen, also Computern usw., gemeint. Hier ist aber der Ausdruck „komplex“ wichtig. Im Alltag wird er gleichbedeutend mit „kompliziert“ verwendet. Dabei meint „kompliziert“ etwas Verwickeltes, das auch auseinandergewickelt werden kann. Verstehen wir, wie die einzelnen Teile funktionieren, so können wir auch das Ganze verstehen und genaue, verlässliche Vorhersagen treffen. Computer bestehen aus tausenden Teilen, wobei sie meist nach der Von-Neumann-Architektur aufgebaut sind und CPU, GPU, RAM, Festplatte, OS usw. zusammen nichts Überraschendes hervorbringen. „Komplex“ meint dagegen etwas Zusammengesetztes, bei dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, was es grundsätzlich unberechenbar macht. Begonnen mit „Intransparenz“, bleibt uns nichts Besseres übrig, als die übrigen vier Charaktereigenschaften aus P-I-K-E-V, also Polytelie, Komplexität, Eigendynamik und Vernetztheit, durchzugehen.

Polytelie

Ein Computer ist darauf ausgerichtet, bestimmte Aufgaben wie Datenverarbeitung und das Starten von Programmen zu erledigen. An der Börse hingegen verfolgen die Menschen unterschiedliche Pläne: Einige wollen schnell Geld verdienen, andere bevorzugen sichere Anlagen. Wegen dieser Vielfalt an Zielen müssen wir flexibel sein, Informationen genau prüfen und uns schnell anpassen können. Vor allem ist es wichtig, zu entscheiden, was uns am wichtigsten ist und manchmal Kompromisse zu machen. Wenn ich das Ziel habe, mein Geld sicher anzulegen, muss ich vielleicht auf die Chance verzichten, schnell viel Geld zu verdienen, weil sichere Anlagen oft weniger Gewinn bringen. Oder, wenn ich mich entscheide, in Aktien zu investieren, um mehr zu verdienen, muss ich auch bereit sein, das Risiko eines möglichen Verlustes zu akzeptieren.

Komplexität (Variablenvielzahl)

Die Hardwarekomponenten eines PCs interagieren nach spezifischen Regeln. Diese Verbindungen sind klar definiert, und der Datenaustausch folgt festen Protokollen. Wenn der PC langsamer läuft, können wir systematisch prüfen, welche Komponente defekt oder überlastet ist. Die Problemursache lässt sich oft eindeutig identifizieren und beheben, da die Beziehungen zwischen den Komponenten stabil und bekannt sind. An der Börse beeinflussen zahlreiche Faktoren wie Unternehmensgewinne, Zinssätze, politische Ereignisse und Anlegerpsychologie den Markt auf komplexe Weise. Diese Faktoren sind stark miteinander vernetzt und verändern sich oft unvorhersehbar. Da es unmöglich ist, alle diese Variablen vollständig zu erfassen, ist es sinnvoll, sich auf die wesentlichen Informationen zu konzentrieren und einfache, verständliche Modelle zu entwickeln. Diese Strategie der Informationsreduktion hilft, das Risiko von Fehlinterpretationen zu verringern und macht die Modelle praktikabler. Während detaillierte Modelle theoretisch genauer sein könnten, führen sie in der Realität oft zu Überanpassung und sind deshalb weniger zuverlässig.

Eigendynamik

Ein PC verändert sein Verhalten nicht eigenständig; seine Funktionen und Reaktionen bleiben gleich, solange niemand Änderungen vornimmt. Veränderungen resultieren ausschließlich aus direkten Eingaben, wie dem Installieren von Software-Updates oder dem Ausführen neuer Befehle. Diese Vorhersehbarkeit vereinfacht die Steuerung und Prognose der Systemleistung. Im Gegensatz dazu besitzt die Börse eine inhärente Eigendynamik, die für selbstständige Veränderungen ohne mein Zutun sorgt. Diese Dynamik entsteht durch die Entscheidungen und Handlungen der Marktteilnehmer sowie durch interne und externe Ereignisse, die oft unvorhergesehene Auswirkungen haben. Angesichts dieser Unvorhersehbarkeit ist es entscheidend, flexibel zu bleiben, Investitionen kontinuierlich zu überwachen und schnell auf Marktentwicklungen zu reagieren. Dies ermöglicht es, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen und potenzielle Risiken zu begrenzen.

Vernetztheit

Bei einem PC sind die Teile, wie der Prozessor, der Arbeitsspeicher und die Festplatte, direkt miteinander verbunden. DieseVerbindungen sind klar und einfach strukturiert, sodass Veränderungen in einem Teil bestimmte, vorhersehbare Auswirkungen auf das System haben. Diese einfache Vernetzung macht es leicht, Probleme zu identifizieren und zu beheben. Die Börse hingegen ist ein Netzwerk, in dem viele Faktoren wie Unternehmensnachrichten, Wirtschaftsdaten und Investorenstimmungen miteinander verflochten sind. Diese Vernetztheit bedeutet, dass eine Änderung in einem Bereich weitreichende und oft unvorhersehbare Effekte auf den gesamten Markt haben kann. Um in diesem komplexen Netzwerk erfolgreich zu sein, müssen Anleger Informationen strukturieren und sich ein klares Bild von den Beziehungen und Einflüssen machen. Das hilft ihnen, bessere Entscheidungen zu treffen und auf Marktbewegungen effektiv zu reagieren.

Zusammenfassung & Ausblick

Um komplexe Probleme anzugehen, starten wir mit Polytelie: Wir erkennen, dass mehrere Ziele gleichzeitig existieren können und setzen klare Prioritäten. Dann begegnen wir der Intransparenz, indem wir aktiv nach Informationen suchen und Unsicherheiten akzeptieren. Komplexität fordert uns auf, Informationen zu reduzieren und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Eigendynamik erinnert uns daran, wachsam und bereit für schnelle Anpassungen zu sein, da sich Bedingungen unerwartet ändern können. Schließlich hilft uns das Verständnis der Vernetztheit, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Elementen zu erkennen und zu nutzen. Indem wir diese fünf Eigenschaften strategisch angehen, stärken wir unsere Fähigkeit, komplexe Herausforderungen effektiv zu meistern.