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Nach dem Abitur wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte. Trotz zahlreicher Berufsmessen und Praktika hatte ich einfach keinen Plan. Beim Schlendern durch die Stadt sah ich im Schaufenster des Buchhändlers Bukowski ein Buch mit einem interessanten Cover und dem Titel „Wir nennen es Arbeit“ von Lobbo. Es weckte meine Neugier, und ich kaufte es. Es war tatsächlich das erste Buch, das ich freiwillig gekauft habe. Danach las ich Pollmers „Prost Mahlzeit!“, Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ und auch „Moby Dick“, indirekt empfohlen von Captain Jean-Luc Picard. Spätestens bei Joyces „Ulysses“ wurde mir bewusst, dass es kein Buch gab, das ich nicht lesen konnte oder durfte. Ich musste nicht auf pädagogische Empfehlungen achten und mir stand die Weltliteratur offen.

Ich las jedes Buch und die meisten Artikel immer von Anfang bis zum Ende. Aus einem Mitteilungsbedürfnis heraus wollte ich nach jeder Lektüre Freunden oder Bekannten davon erzählen, doch meist hatte ich vom Inhalt nur eine ungenaue Vorstellung und konnte nicht konkret Auskunft geben über die Hauptgedanken oder Probleme. Es war ein sehr schlechtes Verhältnis von investierter Zeit fürs Lesen zu dem, was gedanklich übrig blieb.

Als es mir einige Zeit später psychisch sehr schlecht ging, ergriff ich erstmals die Flucht nicht zu Drogen, sondern räumte mein Zimmer auf, kaufte mir eine Architektenleuchte mit Tageslicht, räumte den Schreibtisch komplett leer und verbrachte viele Wochen jeden Abend und oft bis tief in die Nacht allein, umgeben von Dunkelheit nur in Gesellschaft der Gedanken des Autors und einer Fruchtfliege, angezogen von der Tageslichtlampe.

Der Autor, dessen Gedanken ich wahrscheinlich tausend Stunden nachging, war Kafka. Ein Arbeitskollege und guter Freund lieh mir „Der Prozess“ und versprach, ich würde es nicht bereuen. Nachdem ich einige Seiten gelesen hatte, war mir klar, dass ich das Buch zurückgeben und mich für die Empfehlung bedanken würde. Dann kaufte ich auch die anderen beiden Romanfragmente, als Trilogie der Einsamkeit, und tauchte in seine erzählte Welt ein. Ich las fast alle seine Erzählungen, Briefe, Tagebücher, amtliche Schriften und die auf drei Bände angelegte große Biografie von Stach.

Ich las exzessiv, tauchte völlig in die erzählte Welt ein und empfand das Lesen einfach nur als Hochgenuss. In der Schule war er mir höchstens gleichgültig, aber eher waren die Analysen seiner Texte eine Qual, weshalb ich wohl diese Erinnerungen verdrängt hatte. Das analytische Lesen hätte mir ihn fast verdorben.

Einige Jahre später studierte ich an der FernUni in Hagen Philosophie und war mit einer ungekannt großen und dichten Textmenge konfrontiert, mit der ich nicht umgehen konnte. Nach 13 Jahren vorhergehender Schule wurde mir jetzt doch deutlich, dass ich nicht lesen konnte. Hier lässt sich gut der Unterschied zwischen Wort und Begriff veranschaulichen: Der Ausdruck „Lesen“ hat viele Bedeutungen, eine bezieht sich auf elementares Lesen als Fähigkeit, jede Kombination von Buchstaben, also Worte, ohne die Lippen zu bewegen zu lesen, und das konnte ich. Die darauf aufbauenden Lesestufen beherrschte ich kaum: prüfendes Lesen, analytisches Lesen und das synoptische Lesen.

Nur zufällig, aus einer Not oder dem Fluchtbedürfnis heraus las ich Kafka richtig, nämlich schnell und eintauchend. Laut Schule hätte ich ihn mir sonst wieder Satz für Satz vorgenommen. Auch war ich es gewohnt, alles von Anfang bis zum Ende zu lesen und nicht erst zu prüfen bzw. zu überfliegen. Und dass ich nach dem Lesen eines Buches es geistig gar nicht besaß, weil ich ohne Bleistift und ohne Notizen und Markierungen las, ist wohl der schlimmste Fehler.

Ich wünschte, ich hätte das Buch „Wie man ein Buch liest“ von Adler und Van Doren schon in der Schule oder zumindest direkt danach kennengelernt. Es war nämlich dieser zeitlose Ratgeber, der mir eine völlig neue Perspektive auf die Kunst des Lesens vermittelte, selbst erfahrene Probleme thematisierte und Lösungen aufzeigte.

Die gute Nachricht ist, dass die Regeln für gutes Lesen, das ähnlich schwierig ist wie gutes Schreiben, überschaubar und relativ schnell erlernbar sind. Bezüglich bei der Belletristik wären das: Sich der Wirkung ausliefern; nicht nach Begriffen, Behauptungen oder Argumenten suchen; Wahrheit und Logik als irrelevant betrachten; sich in der erzählten Welt heimisch machen und beobachten. Ich muss verstehen, welches Erlebnis mir der Autor bescheren wollte, bevor ich ihn kritisiere. Schöne, erzählende Literatur sollte schnell gelesen und völlig durchdrungen werden; und zuletzt sollten wir Gedichte in einem Zug und möglichst laut lesen.

Fortsetzung folgt!


Folgendes Buch bildete die Grundlage meiner Überlegungen: Adler & Van Dooren – „Wie man ein Buch liest“ (1972)