Siehe u.U. auch Lernplattform (LMK)

1.Kommunikationsprobleme

Schweine

Während der Episode „Schweine“ der ARD-Serie „Polizeiruf 110“ wird ein Jurist verhört. Ohne danach gefragt zu werden, erläutert der Anwalt die Gründe für die Unbeliebtheit der Mitglieder seiner Zunft. Er scheint dabei erwartete Kritik vorwegzunehmen. Jedenfalls liege es an der Fachsprache, die ursprünglich entwickelt wurde, um die Laien zu enteignen – das würden viele Menschen glauben – und viele hätten das Gefühl, dass Anwälte sie davon abhalten wollten, ihre eigenen Rechte zu verstehen. (rbb, 24.03.2024, Polizeiruf 110, „Schweine“, 30:43-31:05)

Studiendauer

Das erinnert mich sofort an ein Gespräch zwischen meinem Onkel und seiner Nichte, die Jura studiert. Dabei wollte er von ihr lediglich wissen, wie lange sie noch an der Uni lernen muss. Und so lautete seine Frage auch: „Wie lange brauchst du denn noch, bis du fertig bist?“. Der genaue Wortlaut ist nicht wichtig, wir verstehen, dass die Frage auf einen Zeitpunkt abzielt und mein Onkel eine Schätzung und kein exaktes Datum erwartete. Leider antwortete die angehende Juristin alles Mögliche und auch viel, nur gab sie ihm keine gute Antwort. Sie hätte mit einem Wort antworten können, wie „2030!“, im Sinne von „Im Jahr 2030“ oder nach dem Jahr auch noch direkt oder auf Nachfrage als Erläuterung sagen können: „schätzungsweise“. Auch hätte sie das Jahr näher bestimmen können, etwa in der Form „Pessimistisch betrachtet, bis 2032“. Nach mehrmaligem Hin- und Her und Nachfragen und Vorwürfen und Bitten um eine kurze Antwort, schien sie ihm etwas weggenommen zu haben. Mein Onkel war der Kommunikationsfähigkeit enteignet, zumindest schien er darüber nachzudenken, ob es ihm an Intellekt fehle.

Im Spiegel des Anderen

Manchmal erkennen wir uns oder etwas an uns erst im Spiegel des anderen und ich erschrak bei dem Gedanken, dass auch ich mich womöglich nicht gut genug ausdrücke, nicht gut genug zuhöre und also vielleicht im Allgemeinen keine guten Kommunikationsfähigkeiten besitze. Es tauchte nämlich auch die Erinnerung an meinen Vater auf, der mir mehrmals vorwarf, nicht richtig sprechen zu können, und außerdem erinnerte ich mich an meinen Vorsatz, daran zu arbeiten, falls nötig. Zweitens erinnere ich mich an die legendäre Vorlesung des Professors für Informatik, Patrick Winston, und seine Erkenntnis, dass unser Erfolg im Leben maßgeblich bestimmt wird durch unsere Fähigkeit zu sprechen, zu schreiben und erst zuletzt durch die Qualität unserer Ideen. Und auch Winstons Vorlesungen bestärkten mich in meinen Vorsätzen.

Inspiration

Zwecks Inspiration oder Vorbild richten wir uns jetzt nicht an die üblichen Giganten in Sachen Sprachmächtigkeit wie Luther, Nietzsche, Goethe, Hebel, Kafka, Mann usw. und nehmen uns auch nicht die didaktisch immer noch unerreichte Stilfibel Reiners’ vor und auch nicht seine „Redekunst“, nein, wir halten es so einfach wie möglich und betrachten hier die zwei wichtigsten Grundsätze des Sprechens: Verständnis und Authentizität. Die Kenntnis der Prinzipien, also Wissen über Aspekte der Kommunikation, ist wichtiger als ihr Einüben. Zumindest ist für Prof. Winston das Wissen über gute Kommunikation der Praxis vorrangig, und ich stimme ihm da zu. (MIT OpenCourseWare; Prof. Patrick Winston; How to Speak; https://youtu.be/Unzc731iCUY?si=U5jwmby6zQKPtX6E)

2. Egon Manke

Eine gute und einfache Technik fürs verständliche Reden ist pyramidales Reden, und zuletzt konnte ich diese Methode besonders gut während der Nordreportage „Fleischsalat und Grillbulette“ über den Krämerladenbesitzer Egon Manke beobachten. Ob nun einem Kunden, seinem Sohn, einem Freund oder dem Reporter, stets sagt er zuerst knapp das Wichtigste und dann in einem schnelleren Tempo und etwas leiser die Details. Sein guter Stil war mir sofort aufgefallen, und ich hoffe, das ist nicht nur subjektiv! Die Fragen an Manke sind von mir nur angenommen, da sie im Video nicht zu hören sind. Die Antworten habe ich wegen fehlender Transkription auch selbst erstellt:

Sortiment

Frage: „Was gibt es hier alles zu kaufen?“

Manke: „Also man kann eigentlich sagen, von den Hacken bis zum Nacken bis zum Kopf, alles, was dazwischen ist, kannst du hier kriegen, und Essen und Trinken natürlich auch.“

Weniger gut wäre: Meine Frau schmiert manchmal Mettbrötchen. Wir haben jetzt auch zweimal die Woche frisches Gemüse. Unser Sortiment wächst. Drüben finden Sie auch Nähzeug usw.

Ladengeschichte

Frage: „Erzählen Sie ein wenig von dem Laden. Seit wann gibt es ihn, seit wann arbeiten Sie hier?“

Manke: „Der Laden ist am 1. Januar eröffnet. Offiziell eröffnet. Ich bin am 21. Januar geboren. Der ist also drei Wochen älter als ich. Das ist auch so eine Sache, nicht? Ja, nee, man kennt sich hier so aus.“

Weniger gut wäre: Mein Vater wollte die Dorfbewohner versorgen und meine Mutter war usw.

Gegend

Frage: „Erzählen Sie über die Gegend, andere Läden, die Wirtschaft usw.“

Manke: „Also wie sich das alles geändert hat hier bei uns auf dem Lande. Wir hatten sonst hier in Wintermoor, die haben alle von der Landwirtschaft gelebt, fast alle, paar wohl, die was anderes gemacht haben, die hatten Viehzeug, kunterbunt durcheinander, aber das ist ja alles weg, und in Schneverdingen, das ist ja der größere Ort hier in der Nähe, da waren 16 Schuhfabriken, von den 16 ist keine übriggeblieben, die sind alle weg. Dann hatten wir fünf so Gastwirte, wo man so Bier trinken konnte, und bisschen Unterhaltung hatte, auch weg.“

Analyse: Manke sagt sofort, dass halt nichts mehr so ist wie es war. Alles hat sich geändert. Welche Betriebe weg sind usw. ist ja zweitrangig.

Sohn

Frage: „Wie macht sich Ihr Sohn?“

Manke: „Er macht sich gut. Fleißig, zuverlässig, ordentlich, hält den Laden schön in Ordnung. Nee, das kann man nicht anders sagen. Die alle guten Sachen, die hat er alle gekriegt.“

Analyse: Wieder zuerst das Wichtigste in einem kurzen Satz, dass der Sohn also gut ist und dann im Nebensatz die Details.

Scherze

Manke zu einem Kunden: „Von allen hier hat er das meiste Geld, hier in unserer Gegend. Er hat ein E-Werk gebaut und bei einem E-Werk ist er noch mit 50% beteiligt. Der verdient jeden Tag, können Sie glauben oder lassen, in einem Werk 3900 Mark, und bei dem anderen die Hälfte. Also er hat 5000 Mark am Tag, entschuldigen Sie,…“

Dann weiter Manke: „Ja, wir haben uns immer viel zu erzählen, von dem ganzen was zurückliegt, und was wir noch vor uns haben. Bloß der Weg ist nicht mehr so lang. 85, habe ich erstmal gesagt, wollen wir werden, und dann wollen wir weiter gucken. Bloß er wird älter noch, weil seine Eltern auch so alt geworden sind. Er überlebt uns noch.“

(NDR; Fleischsalat und Grillbulette – Mankes Krämerladen in Wintermoor (Erstausstrahlung 18.2.2013, 28:30 Min. Länge; https://archiv-wintermoor.de/allgemein/die-nordstory-wintermoor-im-ndr))

3. Mike Tyson

Als Vorbild in Sachen Einzigartigkeit, Echtheit und Wahrhaftigkeit fällt mir sofort der ehemalige Schwergewichtsboxer Mike Tyson ein. Er sitzt einem Interview- bzw. Gesprächspartner gegenüber, mit furchtlosem Blick, lässt sich die Zeit fürs Nachdenken oder einfach nur dem Sammeln seiner Gedanken, denn es sind weder Blockaden, Stress, Sorgen um ein Imageverlust, Imponiergehabe usw. vorhanden, nur möchte er es in eine gewisse, verständliche Form bringen, aber nicht inhaltlich verändern:

Gefängnis

Auf seine Zeit im Gefängnis angesprochen sagt er: „Ich war dort. Ich sage nicht, ich war im Knast, ich bin Hardcore. Nein, wegen ein paar Homosexuellen, einem Haufen von … Ein Haufen schwacher Menschen im Knast, und der Grund fürs Gefängnis, warum Menschen eingesperrt werden, weil sie ihren Shit nicht auf die Reihe bekommen, sie können ihr Leben nicht organisieren. Das bedeutet nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, nur weil du im Gefängnis bist, sondern es bedeutet, du bist ein dysfunktionales, schwaches Individuum, das sein Leben nicht auf die Reihe bekommt da draußen in der Welt. Das bedeutet nicht, du bist ein harter Kerl. Es ist einfach für jemanden, einen anderen zusammenzuschlagen, mit deinen 10-12 Jungs im Rücken o.ä. Nein, ich spreche, Mann gegen Mann, Bravo gegen Bravo, ich nehme es mit jedem auf, rotes Blut, blaues Blut, egal wer.“ (YouTube; Fighting Centre; Mike Tyson talks about people in prison; https://youtu.be/Me-sRC48dDk?si=fgW2e6FCFo5k9iUu)

Er betont also, dass das Gefängnis voller Menschen sei, die ihr Leben nicht im Griff haben. Dies, so Tyson, mache sie nicht zu schlechten Menschen, sondern zu dysfunktionalen und schwachen Individuen. Weiterhin distanziert er sich von der Idee, dass physische Überlegenheit in der Gruppe Stärke beweist. Stattdessen definiert er wahre Stärke als die Fähigkeit, sich im direkten, fairen Einzelkampf zu messen, unabhängig von der sozialen oder biologischen Herkunft der Kontrahenten.

Würde Tyson imponieren wollen und um sein Image bemüht sein, dann hätte er vielleicht in etwa so geantwortet: „Während meiner Zeit im Gefängnis habe ich eine große, bedeutende Wandlung durchgemacht. Ich habe mich sehr harten Herausforderungen gestellt. Dabei habe ich gelernt, dass man nicht stärker wird, indem man anderen Schmerzen zufügt, sondern indem man seinen Prinzipien treu bleibt.“

Wir erkennen hier mühelos das unauthentische Gehabe.

Ringgegner

In einem Interview mit Tucker Carlson wird Tyson über seine Gefühle gegenüber seinen Ringgegnern gefragt und antwortet: „Ich wollte sie töten […]“ Carlson lacht nervös und fragt dann, wie Tyson sich darauf, also diese Gefühlslage, vorbereitet habe: „Ich denke nach, wer ich bin. Ich will nicht zurück dorthin, wo ich herkomme. Ich will nicht zurück zur Armut […]“ Und weiter mit: „Ich dachte, je mehr ich den Gegner verletze, desto beliebter macht es mich […]“ (Fox News; Tucker Carlson heute; Mike Tyson on wanting to ‚kill‘ his opponents in the ring, living with tigers; https://youtu.be/d_UsNdPXhWE?si=tQUSb3klZHpBTNNu)

Und wieder, typisch für Tyson, bringt er seine Gefühle und seine Vergangenheit in einer sehr direkten Weise zum Ausdruck. Hätte er nicht ehrlich gesagt, dass er keine starken Emotionen gegenüber seinen Gegnern empfand oder, dass er einfach nur gewinnen wollte, dann würde es eine distanzierte und gleichgültige Haltung zeigen, und sie stände im Widerspruch zu seiner Leidenschaft und emotionalen Tiefe. Wir als Zuschauer hätten nichts gewonnen.

Idole

Auf seine Idole als Kind oder Jugendlicher angesprochen, ruft jemand aus dem Publikum „Mohamed Ali“, worauf Tyson erwidert: „Nein, ich wollte nicht wie Muhammad Ali sein, weil wo ich herkam, Ali kam nicht wo ich herkam. Ich kam aus Dreck, Abschaum und Abwasser, also wollte ich gemein sein wie Sonny Liston und Jack Dempsey. Ich wollte wild sein, ich wollte dich mit meiner Angst töten. Ich war nicht wie Muhammad Ali. Ich liebe und respektiere Muhammad Ali, aber Muhammad Ali ist nicht wie ich, er kommt nicht aus der Welt, aus der ich komme.“ (Liam Galvin; Mike Tyson – ‚I Didn’t Want to be Like Muhammad Ali!’ https://youtu.be/s-H-OnJuNXU?si=UkG8b_OzQk59X4SG)

Tyson macht also deutlich, dass er sich von Ali abgrenzt, weil ihre Herkünfte und deshalb auch ihre Weltanschauungen sehr unterschiedlich sind. Ali war bekannt für seine elegante Art und seinen gesellschaftlichen Einfluss. Dagegen stammt Tyson aus einer Welt des Drecks, Abschaums usw., und das hat ihn rau und aggressiv gemacht. Deshalb identifiziert er sich mehr mit Kämpfern wie Sonny Liston und Jack Dempsey, die für ihre Härte und Wildheit bekannt sind.

Eine nicht authentische Antwort, die darauf abzielt, das Publikum zu beeindrucken und eine politisch korrekte Haltung einzunehmen, lautete vielleicht so: „Muhammad Ali war zweifellos einer der größten Boxer aller Zeiten, und natürlich habe ich immer zu ihm aufgeschaut. Seine Eleganz im Ring und sein Engagement außerhalb davon waren inspirierend. Ich habe versucht, in seine Fußstapfen zu treten, sowohl als Athlet als auch als Aktivist. Er hat den Weg für Kämpfer wie mich geebnet, und ich bin stolz darauf, Teil dieses Erbes zu sein.“

4. Fazit

Die Betrachtungen Mankes und Tysons sollen die beiden Grundsätze bzw. Forderungen nach Verständlichkeit und Wahrhaftigkeit veranschaulichen. Bestenfalls geben sie auch Impulse, um unsere eigene Kommunikationsweise kritisch zu betrachten und zu optimieren.